Analyse, Beratung & Training – Zentrum in Zusammenarbeit mit der LMU München

Interview mit Brigitte Döcker

AWO Bund

15.12.2018


Heute spreche ich mit Frau Brigitte Döcker, Vorstandsmitglied des AWO Bundesverbandes e.V.

Guten Tag, Frau Döcker!

Guten Tag, Frau Seelmann!

Was besorgt Sie aktuell zu den Themen Rassismus und Diskriminierung?

Aktuell besorgt mich die zunehmende Verbreitung von rechten Einstellungen und von menschenfeindlichem Verhalten sowohl Personen, als auch Menschengruppen gegenüber. Dieses tritt am deutlichsten in den sozialen Medien hervor, wo Anstand und Höflichkeit überhaupt keine Rolle mehr spielen. Reine Wut- und Hassmails werden ohne Skrupel verfasst. Das finde ich sehr besorgniserregend.

An welchen Punkten müsste man stärker arbeiten?

Wir sind als Verband zu mehr Information, mehr Fortbildung und Wissensvermittlung zu dem Thema menschenfeindliches Verhalten, Diskriminierung bis hin zu Rassismus entschlossen. Und ich glaube, dass wir als Institution da eine besondere Aufgabe und auch besondere Möglichkeiten haben. Wir haben 2012, nach Bekanntwerden der NSU-Morde, unsere Aktion „AWO gegen Rassismus - AWO für Vielfalt“ ins Leben gerufen, weil wir uns in der Verantwortung sahen wahrnehmbarer öffentlich gegen Rassismus anzugehen. Mit dieser Aktion im Jahr 2012 haben wir einen neuen Startpunkt gesetzt, aktiver zu sein. Und das haben wir bis heute noch deutlich ausgeweitet.

Unser Ziel ist Bewusst-Machung und Haltung zu zeigen. Wir sind sehr froh darüber, dass wir jetzt diese Aktion alljährlich, jedes Jahr am 21. März, am internationalen Tag gegen Rassismus, wiederholen und jedes Jahr verzeichnen wir wirklich eine große Beteiligung unseres Verbandes bundesweit. Das ist ein Zeichen der gegenseitigen Versicherung: ja, da kann man mit der AWO rechnen, da sind wir da. Wir wissen aber auch, wir müssen tiefer in das Thema einsteigen, wir müssen weitere Maßnahmen ergreifen, um uns intensiv mit den Themen auseinanderzusetzen und herauszuarbeiten, wo wir Einwirkungsmöglichkeiten haben.

Wir sehen einen großen Bedarf an Wissenserwerb, an Fort- und Weiterbildung und auch an Reflexion von Diskriminierung und Übung im Umgang damit.

Vielleicht noch als Ergänzung dazu: wir haben in den letzten Jahren sehr viel entwickeln können im Bereich Quartiersarbeit - das heißt da, wo die Menschen wohnen, gemeinsam mit AWO Haupt- und Ehrenamtlichen. Auch diese Arbeit basiert auf der Grundüberzeugung von Toleranz, Respekt und Wertschätzung untereinander und der Sensibilisierung für Partizipation und Teilhabe gegen Ausgrenzung von Menschen untereinander. Hier ist ein Lernfeld für ein demokratisches Miteinander.

Dafür brauchen wir Materialien, gute Beispiele, da haben wir inzwischen schon so einiges zu anzubieten, aber wir sind weiter intensiv dabei, unter anderem ja auch über das Projekt „Den Menschen im Blick“.

Diskriminierung welcher Gruppen erleben Sie am häufigsten mit?

Das sind hier im Berliner Stadtbild am stärksten die Menschen, die zu den Roma gehören. Sie sind auf dem extrem angespannten Wohnungsmarkt absolut chancenlos und bekommen nur in geschützten Segmenten überhaupt eine Wohnung. Diese Wohnungen sind aber auch nur in begrenzter Anzahl vorhanden. Aber auch Menschen, die wohnungslos sind und auf der Straße leben, sind sehr häufig von Diskriminierung betroffen. Die Wohnungslosigkeit in Berlin steigt aufgrund der Mietentwicklung und dem gleichzeitig hohen Zuzug. Es ist wirklich erschreckend wie viele Menschen tatsächlich auf der Straße leben. Diese Menschen sind völlig schutzlos.

Gut, dann kommen wir mal zur AWO. Was tut ihre Institution gegen Rassismus und Diskriminierung?

Wie gesagt, wir haben in den letzten Jahren die Auseinandersetzung mit den Themen intensiviert. Zur Erklärung der Strukturen in der AWO: die Bundeskonferenz ist unser oberstes Beschlussgremium - quasi unser Parlament - welches alle vier Jahre stattfindet. Die Bundeskonferenz hat 2012 sowie auch 2016 grundlegende Beschlüsse zum Thema Arbeit gegen Rassismus gefasst. Dazu gehört unter anderem auch ein Ausschlusskriterium, das sowohl im Haupt- als auch im ehrenamtlichen Bereich für unseren Verband gilt. Wenn Mitarbeitende der AWO sich bewusst rassistisch äußern, soll das zu einem Ausschluss aus der AWO führen. Wenn man nach Gesprächen feststellt, dass sind überzeugte Äußerungen und diese Personen wollen ihre Gesinnung nicht ändern, dann sind sie bei der AWO falsch. Wir machen von dem Recht Gebrauch, dass wir Mitarbeitende, die absolut gegen unsere Werte und unser Leitbild agieren, nicht beschäftigen wollen.

Wir haben Materialien zu den Themen verfasst. Wir haben auch eine Broschüre „Miteinander gegen Hass, Diskriminierung und Ausgrenzung“ gemeinsam mit weiteren Verbänden der freien Wohlfahrtspflege verfasst und herausgegeben. Und hier werden Grundlagen zum Umgang mit diesen Themen in der Freien Wohlfahrtspflege genannt, zu denen wir uns gemeinsam bekennen.

Darüber hinaus haben wir auch in Zusammenarbeit mit Dr. Britta Schellenberg eine Broschüre „AWO-Positionen gegen Rechts – unser Selbstverständnis für eine vielfältige und solidarische Gesellschaft“ verfasst, das ist eine sehr praxisorientierte Handlungsleitlinie. Sie wurde in unserer Kommission gegen Rechtsextremismus und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit für den Verband erarbeitet, um Menschen, die bei der AWO tätig sind, Hilfen und Tipps zu geben. An wen kann ich mich wenden, wie gehe ich mit jemandem um, der sich überzeugt rassistisch äußert? Für diese Broschüre haben wir wirklich enormen Absatz gefunden mit 20.000 Stück. Die Neuauflage ist gerade in Arbeit.

Wir haben auch ein Sonderheft „AWO gegen Rassismus“ herausgegeben. Auf dem Cover sind zwei Menschen abgebildet, eine hellhäutige Frau sagt zu einem dunkelhäutigen Mann: „Sie sprechen aber gut Deutsch.“ Und der entgegnet: „Sie aber auch.“ Hier wird offener Rassismus deutlich, der aber nicht bewusst ist. Es geht aber um Bewusst-Machung.

Jetzt geht es darum, die schriftlich dargelegten Positionen und Hilfen systematisch in den Arbeitsalltag einzubauen. Wir freuen uns, dass wir die Möglichkeit haben, über dieses Projekt „Den Menschen im Blick“  an der Gestaltung von Fortbildungsmodulen mitzuwirken. Darum muss es jetzt gehen. Dass diejenigen, die in der AWO Verantwortung tragen - sowohl Führungskräfte als auch Mitarbeitende der AWO - das Thema tiefer durchdringen und sich auseinandersetzen mit den Fragen: Wo beginnt eigentlich Diskriminierung? Was ist Rassismus? Es ist notwendig, Wissen aufzubauen und das eigene Verhalten angesichts dieses neu erworbenen oder erweiterten Wissens zu reflektieren.

Haben Wohlfahrtsverbände eine besondere Rolle im Kampf gegen Rassismus und Diskriminierung?

Ganz klares „Ja“, und zwar in all ihren Funktionen und Rollen, die sie wahrnehmen. Wohlfahrtsverbände sind Teil der Zivilgesellschaft. Sie erheben ihre Stimme als Anwalt/Anwältin und sie sind Arbeitgeber in Bereichen, in denen Menschen sich um Menschen kümmern. In all diesen Rollen haben die Wohlfahrtsverbände eine ganz besondere Verantwortung, auch als Teil der Zivilgesellschaft. Ausgehend von unserem Grundgesetz: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Das sind Grundlagen unserer Arbeit, dass wir uns für Menschen einsetzen und als Teil der Zivilgesellschaft auch dabei mitzuwirken wollen, dass unsere Demokratie nicht beschädigt wird. Die Rolle ist sowohl sozialpolitisch als auch ganz grundsätzlich.

Angesichts unserer Geschichte sind wir als zivilgesellschaftliche Akteure auf einer Seite, die auch kritisch darauf guckt, wie der Staat agiert, welche Gesetze geschrieben werden. Wir als Bundesverband, und auch die Landes- und die Bezirksverbände begleiten Gesetzgebungsverfahren auf ihren jeweiligen Ebenen. Da sehen wir uns in einer ganz besonderen Verantwortung, auch als zivilgesellschaftliche Organisation, und nicht nur als Anbieter von Dienstleistungen. Als Anbieter von Dienstleistungen fragen wir uns, ob es den Menschen teilweise gar nicht bewusst ist, dass sie in einer Menschenrechts-Profession arbeiten. Das heißt, dass Regeln gelten, die sind einfach rechtskräftig und ich sehe eine Verantwortung darin, diese allen Mitarbeitenden bewusst zu machen. Die Mitarbeitenden sind in der Regel in Kontakt mit schutzbedürftigen Menschen, wie mit Kindern in Kitas, mit älteren Menschen in der Altenhilfe, mit Geflüchteten, mit Menschen mit Migrationshintergrund. Wir haben ein großes Angebot an Beratung für Menschen, die nach Deutschland kommen, diese auch über ihre Rechte zu informieren. Diese Menschen suchen bei uns Schutz und Hilfe.

Wir sind der Meinung, dass da mehr getan werden muss. An dem Bewusstsein, der Haltung zu arbeiten aber auch Wissen zu vermitteln und die eigene Person in Frage zu stellen, das eigene Handeln zu reflektieren. Diskriminierung fängt schon viel früher an als man sie spürt. Es muss eine ganz hohe Sensibilität da sein, um zu spüren, wann man eine Grenze erreicht, und auch, wann man sie übertreten hat. Das ist nicht durch Vorträge zu vermitteln, sondern da muss es Übungsanregungen geben. Wissen muss vermittelt, aber auch Übungsanregungen gegeben werden, wo man über das eigene Handeln nachdenkt, wo man angeregt wird, das aktiv auch zu tun und systematisch. Nicht nur zufällig. Führungskräfte haben eine hohe Verantwortung, weil sie darauf achten müssen, ob Grenzen überschritten werden. Sie müssen auch handeln, wenn oder besser bevor Grenzen überschritten werden. Die Grenzen müssen gesehen werden, indem Menschen ihre Haltung bewusst reflektieren. Da muss eine Führungskraft auch Anregungen geben können, z.B.: „Gucken Sie mal, jetzt haben Sie mit Frau Müller in einer Weise gesprochen, die war nicht auf Augenhöhe“.

Um die Umsetzung und um Handeln geht es auch in der nächsten Frage, nämlich: Der Bundesverband der AWO ist ja ein großer Verband mit vielen Gliederungen. Inwiefern ist es notwendig, gegen Probleme wie Rassismus oder Diskriminierung in einer gesamten Institution vorzugehen und inwiefern ist das auch möglich?

Also wir haben ja neben unseren Organen - die habe ich ja erwähnt – auch eine sehr klare Abstimmungs- und Kommunikationsstruktur mit unseren Gliederungen. Wir haben 30 Landes- und Bezirksverbände, die wiederum haben Kreisverbände und Ortsvereine, mit denen sie kontinuierlich in Kontakt sind. Somit ist die AWO bundesweit vernetzt und kann in einer strukturierten Weise miteinander kommunizieren. Die Themen Arbeit gegen Rassismus und Antidiskriminierungsarbeit werden regelmäßig angesprochen. Es wird als hoher Wert bei der AWO angesehen, dass wir da aktiv sind und aktiv bleiben.

Die Broschüre „AWO-Positionen gegen Rechts – unser Selbstverständnis für eine vielfältige und solidarische Gesellschaft“ haben wir nicht einfach so verschickt, sondern sie wurde vorbestellt mit 20.000 Stück.

Das zeigt ja auch, dass wir nicht große Werbeaktionen machen müssen, sondern, dass es dafür ein Bewusstsein in unserem Verband gibt. Wir können an den Zahlen erkennen, dass eine Antirassismus-Arbeit vor Ort umgesetzt wird. Auch die zahlreichen Fotos über Aktivitäten vor Ort zeigen uns das.

Weiterhin arbeitet eine vom Präsidium eingesetzte Kommission gegen Rechtsextremismus, wo wir mit verschiedenen Ebenen, mit AWO Präsidiums-Mitgliedern, mit Geschäftsführung aus Landes- und Bezirksverbänden, aber auch mit Externen, die sich professionell mit dem Thema beschäftigen, mehrere Sitzungen im Jahr haben. Zudem trifft sich eine Arbeitsgruppe auf der Ebene der Hauptamtlichen, die bundesweit in Demokratieprojekten tätig sind und tauschen sich aus. Sie holen sich dort auch kollegiale Beratung und stärken sich. Oft sind das solitäre Projekte vor Ort, aber es entsteht ein großes Netz, das immer größer wird. Darüber können wir sehr froh sein.

Dann kommen wir bereits zur Schlussfrage: Haben sie einen persönlichen Tipp gegen Rassismus oder Diskriminierung?

Das Wichtigste ist, sich selbst in der Verantwortung zu sehen. Also nicht zu sagen: „Ich bin ja kein Rassist, deshalb muss ich ja auch nichts machen.“ Das ist eine Haltung, die können wir uns heute nicht mehr erlauben. Ich erlebe, dass Haltungen, die in diese Richtung oder in die Richtung des Rassismus gehen, zunehmen. Wichtig ist auch, sich einzumischen, wenn Menschen sich über andere stellen. Jemanden zu unterstützen, der schwach ist und angegriffen wird. Man muss natürlich auch sich selbst schützen. Ich rate dazu, sich zu verbünden gegen Diskriminierung und Rassismus. Sich beteiligen an Aktionen und Demonstrationen. Und mich hat diese große Demonstration „Unteilbar“ für eine Gesellschaft in Vielfalt und gegen Rassismus und Menschenverachtung hier in Berlin sehr ermutigt. Da waren wir als AWO dabei mit einem AWO Block. Da sind 240.000 Menschen zusammengekommen und haben gezeigt: Wir sind mehr.

Das ist mein Tipp: Sich selber eine Rolle geben, sich verantwortlich zeigen in einer Haltung, die auf Augenhöhe und respektvoll ist. Respekt und Höflichkeit auch im Kleinen zeigen, auch im Netz: das Internet ist kein rechtsfreier Raum, sondern ein Raum, in dem Menschen miteinander kommunizieren. Und hierbei sollen Respekt, Anstand und Höflichkeit genauso gelten wie im persönlichen Kontakt.

Vielen Dank!

Sehr gerne.

Die Arbeiterwohlfahrt (AWO)

Die AWO wurde 1919 von Marie Juchacz als Hauptausschuss für Arbeiterwohlfahrt der SPD gegründet, d.h. die AWO feiert 2019 ihr hundertjähriges Jubiläum. Sie ist ein Mitgliederverband mit derzeit. 333.000 Mitgliedern und circa 65.600 Ehrenamtlichen. Die AWO ist Trägerin von 13.000 Einrichtungen in allen Bundesländern, darunter Tageseinrichtungen für Kinder, Senioreneinrichtungen, Wohngemeinschaften für junge und ältere Menschen, Tagesstätten, Beratungsstellen, ambulante Dienste und vieles mehr (vgl. „Die AWO in Zahlen und Fakten“). Der AWO Bundesverband fasst alle Landesgliederungen und Bezirksverbände der Arbeiterwohlfahrt zusammen (vgl. „Landes- und Bezirksverbände“). Die Aufgabe des Bundesverbandes ist die Vertretung der fachlichen Interessen des Gesamtverbandes sowohl auf der bundespolitischen als auch auf der europäischen Ebene und die Übernahme diverser Außenvertretungen (vgl. „Bundesverband“).

AWO: „Die AWO in Zahlen und Fakten“. Erschienen unter https://www.awo.org/die-awo-zahlen-und-fakten

AWO: „Landes- und Bezirksverbände“. Erschienen unter https://www.awo.org/ueber-uns/landes-und-bezirksverbaende

AWO: „Bundesverband“. Erschienen unter https://www.awo.org/bundesverband

AWO: „Unsere Werte“. Erschienen unter https://www.awo.org/unsere-werte


Zurück zur Übersicht

Das Besondere ist, dass das Projekt auch „das System im Blick“ hat, in dem sich die Menschen bewegen. Und so werden nicht nur Individuen kompetenter im Umgang mit Diskriminierung, sondern Teams, Abteilungen und im besten Fall ganze Organisationen.

Martin Becher, Bayerisches Bündnis für Toleranz – Demokratie und Menschenrechte schützen, über das Projekt DEN MENSCHEN IM BLICK