Analyse, Beratung & Training – Zentrum in Zusammenarbeit mit der LMU München

Interview mit Martin Becher

Bayrisches Bündnis für Toleranz – Demokratie und Menschenrechte schützen

12.02.2019


Heute spreche ich mit Herrn Martin Becher, Geschäftsführer des Bayrischen Bündnis für Toleranz – Demokratie und Menschenrechte schützen. Hallo Herr Becher!

Hallo!

Was besorgt Sie aktuell zum Thema Rassismus und Diskriminierung?

Es gibt natürlich eine Dauerbesorgnis zu Rassismus und Diskriminierung, sie sind insgesamt sehr verbreitet und wenig reflektiert. Was mich momentan am meisten besorgt, ist, dass die Akteure, die sich rassistisch und diskriminierend äußern, gesellschaftliches Oberwasser haben. Inzwischen äußern sich Gruppen, Organisationen, Parteien jetzt auch entsprechend diskriminierend und rassistisch, die das ansonsten nicht tun, weil sie den Eindruck haben, es würde zum Mainstream gehören, und dass von daher adaptieren.

An welchen Punkten müsste man stärker arbeiten?

Das R-Wort ist ein schwieriges Wort in der öffentlichen Diskussion, und das hat man ja jetzt erst wieder an der Debatte und dem Rücktritt des Nationalspielers Özil gesehen. Da standen viele Vorwürfe im Raum. Das R-Wort ist in einer unglaublichen Weise aufgeladen, es ist etwas, womit sich oft nicht wirklich auseinandergesetzt wird. Wenn jemand oder eine Äußerung als rassistisch bezeichnet wird, das scheint einer der schlimmsten Vorwürfe zu sein, die man jemandem machen kann. Das führt wiederum zu absolut pauschalen Abwehrreaktionen, Abwehrmechanismen und damit zu jeglicher Verhinderung von Lern- und Reflexionsmöglichkeiten. Wir haben im Bayerischen Bündnis für Toleranz den Leitspruch „Wir sind erst Teil der Lösung, wenn wir erkennen, dass wir Teil des Problems sind". Darin kommt etwas sehr Selbstreflexives zum Ausdruck, damit kommt auch eine Haltung zum Ausdruck, die ein Stück weit von Demut gekennzeichnet ist. Aber gleichzeitig sagt man damit auch: „Du kannst auch Teil der Lösung sein". Man gibt den Menschen damit auch eine Art von Empowerment, was ich in der ganzen öffentlichen Debatte über Rassismus und Diskriminierung überhaupt nicht so wahrnehme, sondern es wird eher als Bezichtigung und auch als Waffe eingesetzt. Das führt im Umkehrschluss dazu, dass Menschen, gerade erwachsene Menschen, nicht bereit sind zu lernen. Und ich glaube, wenn wir was verändern wollen, müssen Menschen lernen, sie müssen Selbstreflexion lernen, müssen eine Distanz zu sich selbst aufnehmen können, sich selber angucken können, was sie tatsächlich tun. Sie müssen auch irritierbar sein. Irritierbarkeit ist ein wichtiger Aspekt, um lernen zu können. In der öffentlichen Debatte über Rassismus sind Leute nicht irritiert. Ich sehe in einem Gespräch über Rassismus oft nur verschränkte Arme. Menschen verschränken die Arme und machen damit im wortwörtlichen Sinne „dicht". So wird sich nichts verändern. Wir müssen aus den Schützengräben raus. Und es muss uns gelingen, einen gesellschaftlichen Diskurs hinzubekommen, der den Menschen erreicht und in dem wir möglicherweise selber erkennen, dass eine nicht-rassistische und diskriminierungsfreie Gesellschaft eine angenehmere Gesellschaft ist.

Und der zweite Punkt, der mir wichtig ist, ist, dass wir gesellschaftlich vielmehr Sprechgelegenheiten herstellen müssen, bei denen sich Betroffene äußern können. Wir müssen es schaffen, dass Betroffene sich artikulieren, um ihren Blickwinkel und ihre Perspektive darzustellen zu können. Das ist ja das Phänomen, was man gerne als strukturellen Rassismus beschreibt: wir haben unterschiedliche Zugänge uns öffentlich zu artikulieren, was natürlich den Rassismus in sich ganz ungemein verstärkt. Da müssen wir dringend etwas verändern.

Wo begegnen Sie in Ihrem Alltag Rassismus oder Diskriminierung?

Ich hab die Frage ausgewählt (*Anm. Redaktion: Der Interviewte konnte zwischen verschiedenen Fragen auswählen.), weil es mir, wenn es um meinen Alltag geht, eigentlich relativ wenig begegnet. Ich lebe in einer mittelgroßen fränkischen Stadt, man lebt ja so in seinen Filterblasen. Und das ist ein Element, was erschreckend ist. Wenn man wirklich nur auf seinen eigenen Alltag guckt, dann fehlt einem manchmal noch die nötige Sensibilität. Aber wenn man so ist, wie ich – weiß, männlich, gesellschaftlich arriviert und körperlich nicht eingeschränkt oder ähnliches – dann fällt es einem einfach nicht auf. Und es gibt den schönen Spruch: „if you don't feel it you have it". Das ist für mich eine Tücke in dieser ganzen Auseinandersetzung mit Rassismus und Diskriminierung - es wird völlig unterschiedlich wahrgenommen. Und wenn man „gesegnet" ist mit bestimmten Eigenschaften, dann wird das nicht an einen herangetragen. Dazu kommt, dass in meinem Freundeskreis sich wenige Leute finden, die die AfD wählen oder die zu Pegida-Demos gehen. Ich hab da natürlich keine Lust drauf, das heißt, ich gestalte mir natürlich auch meinen Alltag so, wie es mir entspricht. Dazu gehören natürlich eher Menschen, die tendenziell nicht-diskriminierend, nicht-rassistisch sind. Dann kommt noch dazu, dass alle wissen, was ich beruflich tue, also verkneifen sie sich erst recht irgendwelche Äußerungen. Dann tauchen die Themen nicht auf. Ich finde, das ist eher eine Problemanzeige als etwas Beruhigendes.

Diskriminierung welcher Gruppen erleben Sie am häufigsten mit?

Wenn ich ins Berufliche schaue, dann kriege ich natürlich schon mit, dass bestimmte Gruppierungen besonders stark diskriminiert werden. Aber das hat natürlich auch damit zu tun, mit welchen Themen man sich selber beruflich auseinandersetzt. Ich komme zum Beispiel aus der Arbeit in Gedenkstätten und für mich ist der Holocaust ein ganz zentraler Punkt, wodurch zum Beispiel die Auseinandersetzung mit Antisemitismus für mich besonders wichtig ist. Folglich nehme ich natürlich auch wesentlich mehr Diskriminierung von Juden war: weil ich mich mehr mit Jüdinnen und Juden darüber unterhalte oder weil ich zu entsprechenden Veranstaltungen gehe. Das ist ein von mir selbst gewählter Ausschnitt. Da kann man sich jetzt jeweils wieder fragen, warum wählst du diesen Fokus, was ist deine Motivation, dass dir diese Form der Diskriminierung und des Rassismus offensichtlich besonders am Herzen liegt, sodass du dich mit dieser Gruppe stärker identifizierst oder dich mehr dafür interessierst, was ihnen gegenüber artikuliert wird.

Generell hat die Ablehnung gegenüber Geflüchteten und Menschen aus dem arabisch-islamischen und dem islamisch-nordafrikanischen Raum natürlich in einem unglaublichen Maße zugenommen. Was ich aber besonders schwierig finde - ich bin jetzt 35 Jahre mehr oder weniger in diesem Metier unterwegs –ist die Arbeit zu den Vorurteilen gegen Sinti und Roma. Wir hatten jetzt zum Beispiel die Studie zur Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit in Bayern von verschiedenen Organisationen des Bündnisses, die wir finanziell unterstützt haben. Nachdem ich sie bei Veranstaltungen vorgestellt habe, blieb ein Erlebnis unvergessen: Auf einer LehrerInnen-Fortbildung haben wir über Vorurteile gegenüber Sinti und Roma gesprochen. Und dabei hat sich eine Lehrerin – ohne jegliche Form der Reflexion und der Distanz - in eine heftige Diskussion mit mir begeben. Dass dann Sinti und Roma in einer Reihe stehen mit Geflüchteten, mit Muslimen, mit Juden, mit Behinderten, mit Homosexuellen – das war für sie absolut nicht nachvollziehbar. Es sei ja objektiv so, dass sich die Zielgruppe „Zigeuner" so und so verhält. Als eine Lehrkraft, die sich freiwillig zu so einer Fortbildung anmeldet, war sie nicht in der Lage, dazu nur einen Schimmer von Distanz herzustellen und das zu reflektieren. Sie war pur in ihrer Abneigung getroffen und hat einfach diesen ihren Vorurteilen und Stereotypen vollkommen freien Lauf gelassen.

Und das ist jetzt nur mal so ein kleines Spotlight. Wir werden jetzt den Landesverband der Sinti und Roma ins Bündnis für Toleranz aufnehmen. In meiner Heimat gibt es einen Ort, der heißt „Zigeunermühle". Dort ist ein Ausflugsziel der Naturfreunde und ich hab mich selber ehrlich gesagt nie wirklich gefragt, warum der Ort so heißt. Wenn man das von Kindesbeinen an hört, dann nimmt man es so an. Das ist für mich auch total interessant und gleichzeitig befremdlich, dass ich da nie nachgefragt habe. Jetzt habe ich erfahren, dass während des 30-jährigen Krieges dort 40 – damals als „Zigeuner" benannt - Sinti und Roma erschlagen worden sind. Es gibt keine Gedenktafel und nichts. Und ich habe mir jetzt vorgenommen, dass wir dort etwas machen. Bei den allerersten Gesprächen mit einigen Leuten in der Region habe ich gemerkt, dass ich so dicke Bretter vermutlich in meinem ganzen Leben noch nicht bohren musste. Ich bin gespannt, was ich dazu dann in ein oder zwei Jahren berichten kann.

Was erschüttert Sie am meisten an rassistischen oder diskriminierenden Handlungen?

Die Hemmungslosigkeit. Ich muss jetzt nicht einmal die Handlungen betrachten, sondern beispielsweise nur Äußerungen in Chats – dann find ich es wirklich Wahnsinn, was man da für einen Zivilisationsbruch attestieren muss. Man weiß durch den historischen Nationalsozialismus, wozu Menschen fähig sind. Diese Prozesse zur kumulativen Radikalisierung hat ja Hans Mommsen beschrieben: Polizeibataillone, die sich radikalisiert und enthemmt haben. Ich glaube, dass der Unterschied zu heute darin besteht, dass damals die Enthemmung und Radikalisierung einerseits in einem totalitären Staat stattgefunden hat und zum anderen häufig als faktisches Gruppenphänomen. Heute sitzen diese Menschen oft völlig für sich allein in ihrem Wohnzimmer vor ihrem Laptop und schreiben dann genau das Gleiche ins Internet. Sie haben keine sich wechselseitig aufstachelnden Momente oder sind in keine Gruppe geraten, wo sie sehen, mein Nachbar oder mein Polizistenkollege damals in den Polizeibataillonen oder das SS- Mitglied – die handeln alle so. Da gäbe es einen Gruppendruck und Gruppenzwang. Der ist ja heute in dem Sinn nicht vorhanden, weil außer ihnen niemand im Raum ist. Trotzdem findet diese Enthemmung statt. Das ist auch eine anthropologische Frage: woher kommt dieser Hass und was sagt dieser Hass und diese Enthemmung eigentlich auch über diese Menschen selber aus? Also sie treffen ja nicht nur eine Äußerung über andere, sondern sie sagen ja auch irre viel über sich selber aus. Das finde ich wirklich erschütternd.

Ist Ihrer Meinung nach ein gesellschaftliches Umdenken nötig?

Die Meinung des Projekts ist nicht zufällig entstanden, sondern wir haben ja jetzt seit 2015 eine kippende Situation: Wir hatten zwischen dem September als damals die Geflüchteten aus Budapest gekommen sind, vier Monate lang ein Rendezvous mit dem aufgeklärten Deutschland, auch hier am Münchner Hauptbahnhof, wo wir gerade sitzen. Wir hatten wirklich eine fantastische Stimmung. Dann kamen die sehr einseitigen Berichte über die Kölner Silvesternacht, die am 3. Januar 2016 publik wurden. Ziemlich genau 4 Monate nachdem Frau Merkel die Geflüchteten aus Budapest reingelassen hat. Dann war dieses Rendezvous beendet.

Seit zweieinhalb Jahren erleben wir jetzt eine kumulative Radikalisierung in der Gesellschaft. Ich will nicht falsch verstanden werden, ich finde das alles schlimm und dramatisch. Es kommt jetzt aber ein ganz großes Aber: wenn ich 25 Jahre zurückdenke an das letzte Mal, wo das Land mit Fremdheit konfrontiert wurde, war das in einem erkennbar deutlicheren Ausmaß was die Zahlen angeht. Viele Menschen haben damals Asyl gesucht nach den Jugoslawischen Nachfolgekriegen. Ich gucke mir an, wie die Situation damals war und was zwischen 1990 ungefähr und - ich sag mal - 2002, 2005 gelaufen ist, dann haben wir in dieser Zeit etwa 200 rassistische Morde in Deutschland gehabt. Ich glaube, heute sind es weniger. Das ist erst eine Generation her, Mechanismen haben sich verändert. Die öffentliche Wahrnehmung ist anders. Früher waren die Morde irgendwo im Tagesspiegel, irgendwo in der Frankfurter Allgemeinen, der Süddeutschen auf Seite 6 mit so einer kleinen Randnotiz gestanden: „Angolaner ermordet". Ich glaube, dass das heute ganz anders wäre. Ich glaube auch, dass Polizei und Verfassungsschutzbehörden bei aller berechtigten Kritik, die man an ihnen haben kann und wo man natürlich auch irgendwie sagen muss, dass diese Institutionen reflektiert handeln müssen, lernende Institutionen in Bezug auf den eigenen Rassismus werden müssen. Aber auch da hat sich natürlich was verändert. Deswegen finde ich es wichtig, das einfach mal festzuhalten.

Es ist weiterhin ein Umdenken wichtig, aber in den 25 Jahren hat sich was bewegt. Das heißt nicht, dass man jetzt die Hände in den Schoß legen kann, weil alles gut ist, aber ich kann auch diese apokalyptischen Tendenzen nicht leiden, zumal ich andere Fakten wahrnehme. Von daher denke ich, ja, wir müssen weiterhin umdenken. Wir haben jetzt auch eine andere Qualität von rechtsgerichtetem Denken, das ist eben der negative Ausschlag im Vergleich zu 1993/1996. Wir haben ein wesentlich besser aufgestelltes rechts-intellektuelles Feld, Leute, die gut analysiert haben, wie die damalige Situation war, die sich jetzt mit rechtspopulistischen Kräften verbinden und die dadurch natürlich eine bestimmte Wirkungsmacht bekommen. Sie versuchen in einer anderen Art und Weise, den gesellschaftlichen Diskurs zu verändern. Man kann das nicht vergleichen, aber die Tiefenwirkung dessen ist möglicherweise schlimmer als die Tiefenwirkungen der 200 Morde. Wenn sich diese eher diskriminierenden, rassistischen, völkischen, rechtsgerichteten Strukturen nicht so artikulieren, dass sie wirklich terroristisch werden oder wenn sie so terroristisch werden, dass sie dann von der Polizei unterbunden werden, ist das weniger schlimm. Aber wenn sie den sehr aggressiven oder sehr erfolgreichen Versuch unternehmen, innerhalb der Gesellschaft mit ihren Themen Platz zu ergreifen, und damit die Gesellschaft von innen heraus zu verändern, dann ist das natürlich von der Tiefenwirkung her eine ganz andere Bedrohungslage.

Von daher glaube ich, dass ein gesellschaftliches Umdenken notwendig ist. Es ist - von der Mehrheitsgesellschaft her nötig - von den 85-90 Prozent, die nicht so denken oder die weitestgehend nicht so denken. Was ich schon wahrnehme, ist, Sensibilität dafür, dass wir die Demokratie, ein gedeiliches Miteinander, nicht einfach so geschenkt bekommen, sondern dass wir das immer wieder neu erkämpfen müssen. Das muss ich eigentlich heute niemandem mehr neu erzählen. Die Leute sind aufgewacht. Es ist zum Teil ein bisschen erschütternd, welche Konsequenzen daraus gezogen werden. Wir erleben das aktuell leider im bayerischen Wahlkampf. Zum Teil werden da - meines Erachtens nach - absolut sachlich unangemessene Konsequenzen gezogen, die einem dann selber schaden, die aber auch dem Gesamten schaden. Es sind noch nicht alle in dem Lernprozess gleichweit. Aber ich glaube, ein Wachrütteln muss nicht mehr stattfinden. Das ist passiert. Und jetzt geht es eher darum, zu gucken, wie man mit dieser Bedrohung in diesen Tiefen angemessen umgeht.

Was tut Ihre Institution gegen Rassismus und Diskriminierung?

Unsere Institution besteht eigentlich aus 70 Institutionen. Das Bündnis für Toleranz hat zur Zeit 70, bald 73 Mitgliederorganisationen. Wir als Projektstelle repräsentieren diese. Unser Handeln habe ich mit dem Leitspruch angedeutet: wir sind erst dann Teil der Lösung, wenn wir erkennen, dass wir Teil des Problems sind. Ein wichtiger Beitrag von uns ist, dass wir eine Einladung aussprechen. Eine Einladung an diese gesellschaftlichen Organisationen in Bayern, sich uns anzuschließen, was sie in der Regel auch gerne tun. Mann/Frau ist in der Regel froh, dabei zu sein, ist sogar bereit, ein bisschen Geld dafür abzudrücken. In diesem Club ist es dann so, dass man „auf der Seite der Guten steht", dafür aber eben nicht nur Eintrittsgeld bezahlen muss, sondern eben auch so eine Eintrittshaltung zeigt. Diese Eintrittshaltung besteht darin, dass man quasi eine Selbstverpflichtung unterschreibt und akzeptiert, dass man Teil des Problems ist. Man verspricht, aktiv zu sein und zu tun, was man in den eigenen Reihen beitragen kann, damit solche Sachen nicht auftauchen.

Wenn jetzt im Priesterseminar der Katholischen Kirche rassistische, rechtsextreme Lieder gesungen werden, wenn in der Evangelischen Kirche homosexuelle Paare nicht in die Pfarrhäuser mancher Gemeinden kommen sollen, wenn im Polizeibus in Fürth ein Aufkleber vom Neonaziversandhaus gefunden wird oder, oder, oder... Dann ist unsere Reaktion nicht, dass wir ein „Blaming" betreiben, sondern, dass wir auf die Selbstheilungskräfte der jeweiligen Akteure vertrauen. Die wissen aber auch, dass wenn sie dann zur nächsten Sitzung kommen, sie damit rechnen müssen, dass sie darauf angequatscht werden. Meistens nicht im formellen Rahmen, aber im informellen Gespräch. Ich rede dann schon auch mit den entsprechenden Einrichtungen und frage nach. Die wichtigste Botschaft ist nicht, dass es irgendwie zu verdammen ist, dass da irgendwo was vorkommt. Dort in diesen Institutionen - zum Beispiel dem Innenministerium - haben wir zigtausende Polizistinnen und Polizisten. Natürlich gibt es da Leute, die das Gedankengut haben, so wie es das auch in den Kirchen, in den Gewerkschaften, überall gibt. Wenn es das in der Gesellschaft gibt, dann gibt es das auch in diesen großen Organisationen. Das Entscheidende ist, dass wir uns darüber Gedanken machen, wie wir als jeweilige Institution damit umgehen.

Mir ist eher wichtig, dass wir empowern, dass wir die Organisation stärken und sie nicht anschwärzen. Wir suchen ein Gespräch, machen ihr ein offenes Angebot wie wir sie unterstützen könnten. In der Regel, wenn man sich erstmal positiv konnotiert kennt, dann ist die Akzeptanz einer kritischen Anfrage viel höher, als wenn irgendjemand von außen kommt oder Probleme sogar noch öffentlich macht. Beispielsweise über einen öffentlicher Brief: „Innenministerium - Rassismus bei der Polizei". Da wird überhaupt nichts gelernt, da stellen sich dann alle Härchen auf und man geht in die Verteidigungshaltung.

Ein Beispiel: Sportschützen oder Schützenvereine werden ja gerne mit rechts in Verbindung gebracht, mit Schlagworten wie Waffenbesitz, männlich dominiert. Der Sportschützenbund war damals unglaublich glücklich, als der Landesbischof und ich sie angesprochen haben. Sie waren sofort Feuer und Flamme und haben dann eine kleine Broschüre herausgebracht, die hieß „Schützenhilfe gegen Rechts". Darin haben sie die Menschen in den Vereinen darauf aufmerksam gemacht haben, wie Nazis auftreten, was rechte Ideologie ist, zu welchen Handlungen sie führt und was verboten ist. Damit findet natürlich eine unglaubliche Sensibilisierung statt. Das tolle ist, die Broschüren gingen an die Jugendübungsleiterinnen und Jugendübungsleiter in den Schützenvereinen, um sie bei ihrer Kompetenz als ÜbungsleiterInnen anzusprechen und nicht bei einem Defizit anzusetzen. Und ich glaube, es ist ein ganz elementarer Punkt, Menschen in ihrer Kompetenz anzusprechen und sie darin dann weiter zu stärken. Niemand von uns mag gerne auf Defizite hingewiesen werden, noch dazu von jemandem von außen. Lernpsychologisch hat man in dem Moment, wo man Menschen in ihrer Kompetenz anspricht, eine ganz andere Möglichkeit bei ihnen etwas in Bewegung zu setzen, als wenn man sie mit den Defiziten anspricht.

Warum ist das Vorgehen gegen Rassismus und Diskriminierung für Ihre Institution relevant?

Wir haben ein strukturelles Problem bei uns im Bündnis für Toleranz: Wir haben viel zu wenig Migrantinnen und Migranten, wir sind ein weißer, deutscher Club. Strukturell haben wir das Problem, dass wir nur bayernweite Verbände, Organisationen aufnehmen. Ganz häufig sind Migranten und MigrantInnenorganisationen aber entweder auf der Bundesebene oder lokal organisiert. Auf der regionalen Ebene ist die institutionelle Entwicklung noch nicht soweit fortgeschritten. Und ich bin zum Beispiel sehr froh, dass wir die Agaby Migrationsbeiräte aufgenommen haben. Ich versuche wirklich bei allen Gelegenheiten, die sich irgendwie bieten, auch Migrantinnen und Migranten ein Mitspracherecht zu geben. Nicht nur Mitspracherecht, sondern dass sie wie alle anderen Akteure zu Wort kommen, sogar bevorzugt. Sie sind die einzigen Migrantinnen die wir bei uns im Bündnis bislang haben. Damit sind sie überrepräsentiert im Vergleich zu allen anderen, aber das ist genau das was wir politisch leisten können. Wir haben ja auch Kontakte zum bayerischen Rundfunk und in die Ministerien. Wir werden auch häufig angefragt und sind somit „dooropener". Somit bieten wir Gelegenheitsstrukturen an. Und das finde ich, ist etwas ganz, ganz wichtiges in der antirassistischen Arbeit, dass man Gelegenheitsstrukturen für eine öffentliche Präsentation herstellt.

Und ja, warum ist es relevant? Also jeder Neonazi, jeder Rechtsextremist ist auch ein Rassist. Jeder Rechtsextremist ist zwar auch ein Holocaustleugner, aber wenn wir uns mit Rechtsextremismus auseinandersetzen, dann kommen wir gar nicht umhin, uns mit Rassismus und Diskriminierung auseinanderzusetzen. Das ist so der eine Punkt, der auf der Hand liegt, den man aber immer wieder deutlich machen muss. Der andere Punkt ist natürlich der, dass, wenn ich jetzt Rechtsextremismus aus der Perspektive des Verfassungsschutzes sehe, dann geht es um etwas, was auch mit Handeln verbunden ist, also nicht nur um Einstellung. Die Menschen, die handeln bezeichnen sie als Extremisten, die bekämpfen sie. Aber in der Diktion des Verfassungsschutzes ist Rassismus nicht unbedingt etwas, was zu Handlungen führt, sondern es ist eine Einstellungsfrage. Der Verfassungsschutz möchte ihn nicht bekämpfen, weil er keine Gesinnungsbehörde ist. Solange das sich nicht in staatsgefährdenden Taten und Handlungen umsetzt, muss er sich nicht qua Auftrag damit auseinandersetzen.

Das kann man natürlich so definieren, aber meiner Ansicht nach würde das völlig am Problem vorbei gehen. Natürlich sind Rassismus und Diskriminierung eine Grundlage dafür, dass Leute rechtsextrem werden. Wenn ich Rechtsextremismus nämlich wirksam bekämpfen will, dann kann ich nicht nur warten bis die Menschen dann durch Taten und Handlungen in Erscheinung treten, sondern im Prinzip muss ich schon längst vorher handeln, wenn es um ihre Einstellungen und Haltungen geht. Deswegen haben wir damals zum Beispiel auch die GMF-Studie in Bayern vorangetrieben. Wir wollten ein Bewusstsein dafür schaffen, dass Rassismus und Diskriminierung eben auch für Rechtsextremismus eine ganz entscheidende Voraussetzung sind. Um Rechtsextremismus erfolgreich bekämpfen zu können, müssen wir uns auch mit Rassismus und Diskriminierung auseinandersetzen. Wir versuchen, diejenigen Akteure, die sich gegen Rassismus und Diskriminierung engagieren, zu unterstützen.

Haben Sie einen persönlichen Tipp gegen Rassismus oder Diskriminierung?

Sich Fremdheit aussetzen. Ich war Ende der 80er Jahre zweimal für einige Zeit in den USA. Das war noch in einer Zeit, in der Städte wie Washington und New York sehr, sehr gewalttätig waren. Es gab dort sogenannte „No-go-Areas" und auch sogenannte „schwarze Viertel". Ich hab mich mal zwei Straßen in Washington verlaufen und mich dann plötzlich in einer Straße wiedergefunden, wo ich der einzige Weiße war und wo schon in meiner Wahrnehmung eine Atmosphäre herrschte, in der ich einfach Angst hatte. Da waren dann meine ganzen privilegierten Eigenschaften plötzlich weg. Das ist eine Erfahrung, die kann ich relativ gut immer wieder abrufen. Ich glaube, wenn man sich das immer mal wieder überlegt, wie man sich da selber gefühlt hat, dann hilft das persönlich sehr, sehr gut. Wobei ich mir nicht anmaße, dass ich dadurch auch nur annähernd wüsste, wie es Menschen geht, die das tagtäglich erleben. Das ist nochmal eine ganz andere Qualität.

Vielen Dank, Herr Becher!
Bitteschön!


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Reiner Schübel, Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern, über das Projekt DEN MENSCHEN IM BLICK